Schulschwänzen aus Not
Kinderarbeit gibt es. Mitten in Europa.
Von Michael Achleitner | 18. Juli 2014
Ein 13-jähriges Mädchen schlichtet im Tabakladen Zigaretten, im Lebensmittelladen packt ein 14-Jähriger Kisten aus. Geht man durch die Straßen des Viertels Barra in Neapel, erkennt man den explosionsartigen Anstieg der Kinderarbeit – eine Folge der Finanzkrise, die vor allem in Griechenland, Spanien und Italien viele Familien in tiefe Armut stürzte.
„Von der Schule hat nur er was“
Giovannis Familie ist eine von ihnen. Der 15-Jährige lebt zusammen mit seiner kleinen Schwester und seiner arbeitslosen Mutter. Seit dem Tod seines Vaters ist er der Einzige in der Familie, der regelmäßig Geld verdient. „Ich musste meinen Sohn aus der Schule nehmen. Die Bücher und Hefte kosten Geld – wie kann ich ihn da in die Schule schicken? Er muss arbeiten und Geld verdienen“, erklärt seine Mutter Rosalia.
Giovanni ist da kein Einzelfall. Die offiziellen Zahlen belegen ein deutliches Ansteigen der Fehlzeiten in der Schule. Im Landkreis von Neapel, in Kampanien, fehlen 54.000 Kinder in den Schulen, 38 Prozent dieser „Schulschwänzer aus Not“ sind jünger als 13 Jahre. „Das zeigt, dass die Kinder sich immer häufiger dafür entscheiden, die Schule zu verlassen und für die Familie arbeiten zu gehen, auch wenn sie das gesetzliche Alter dafür noch nicht erreicht haben“, sagt der für Sozialpolitik zuständige ehemalige Vizebürgermeister Sergio D’Angelo. Der italienische Staat versuchte eine Gegenmaßnahme zu setzen, indem er das Ende der Schulpflicht von 14 auf 16 Jahre erhöhte – was nur zu noch mehr Schulabbrechern führte.
Die Mafia übernimmt
Vom Staat gibt es kaum Hilfe.
Vor allem die Streichung des „reddito di cittadinanza“ (Grundeinkommen) für Familien mit einem Jahreseinkommen von weniger als € 5.000,– hat 130.000 anspruchsberechtigte Familien in die Armut gestürzt. Auch die Sozialhilfen und Beihilfen für Arme wurden stark gekürzt.
Keine Zukunft
Für die Camorra arbeitet Giovanni (noch) nicht. Er arbeitet schwarz bei einem Lebensmittelhändler. Elf Stunden am Tag, sechs Tage in der Woche. Gio, wie ihn seine Freunde nennen, verdient als Ladenhilfe 75 Cent pro Sunde. Den ganzen Tag füllt er Regale auf und liefert Einkäufe im Viertel aus. „Eigentlich wollte ich weiter zur Schule gehen“, sagt Gio. „Ich wollte Informatiker werden, aber was bleibt mir übrig?“