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Absurdes Essen
Wenn sich Magermodels Fett absaugen lassen.
„Ich weigerte mich, Gemüse zu essen, das vor mehr als einer Viertelstunde geerntet worden war”, sagte Dr. Steven Bratman, ein US-Arzt, der seine krankhaft gesunde Ernährung als „Orthorexia nervosa” bezeichnete.
Was auf den ersten Blick lustig klingt, ist bitterer Ernst. Der Zwang, sich gesund zu ernähren, ist neben Magersucht (Anorexia nervosa), Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa), Störungen mit Essattacken (Binge-Eating Disorder) und Fettsucht (Adipositas) eine Form der Essstörung, die ein normales Leben unmöglich macht. Essen und die Wahl der Lebensmittel nehmen den ganzen Tag ein. Familie, Freunde, Ausbildung – all das rückt in den Hintergrund und stellt den Betroffenen ins soziale Aus. Eine Einrichtung, die Jugendlichen hilft, den gesunden Umgang mit Essen (wieder) zu finden, heißt sowhat.
In das Institut kommen viele Patienten mit einem BMI unter 15. Kinder, Jugendliche und deren Eltern wie auch Erwachsene können sich beraten lassen und sich wenn nötig auch für eine Psychotherapie anmelden. Einmal im Monat findet ein Beratungsabend für Angehörige statt, denn auch sie benötigen Unterstützung. HelpStars hat mit der Leiterin Eva Schemm gesprochen.
HelpStars: Wie merke ich, dass ich eine Essstörung habe?
Eva Schemm: Wenn ich esse und trotzdem abnehme und mein Arzt mir sagt, dass kein medizinisches Problem besteht. Wenn ich häufiger oder sogar ständig an Essen denke. Wenn mir mein Umfeld laufend sagt, dass ich etwas essen soll. Wenn sich Menschen ehrliche Sorgen machen, weil ich nicht esse wie andere. Wenn ich mir angewöhnt habe, mir nach dem Essen den Finger in den Hals zu stecken. Wenn ich mich häufig vor den Spiegel stelle und feststelle, dass ich mich viel zu fett fühle ... Es gibt viele Anzeichen dafür, dass ich ein gestörtes Essverhalten habe. Welches Problem genau vorliegt, muss individuell abgeklärt werden. Eine massive Essstörung kann auch mit einer Depression, starkem Leistungsabfall, Konzentrationsstörungen, körperlichen Schmerzen, Kopfschmerzen, Schwindel und vielem mehr einhergehen. Außenstehenden bleibt dies kaum verborgen. Der Betroffene selbst versucht zu beschwichtigen, will und kann oft nicht wahrhaben, dass er lange vor dem Auftreten einer Essstörung eine Geschichte von Leid, Kränkung und traumatisierenden Erlebnissen durchgemacht hat.
Schemm: Der Weg in eine schwere Essstörung dauert meist mehrere Jahre. Die Anlage für eine Essstörung besteht lebenslang. Daran kann auch die beste Therapie nichts ändern. Wie aber mit Problemen umgegangen werden kann und wie Lösungen fürs eigene Leben aussehen können, das kann in einer Psychotherapie erarbeitet werden. Was eine psychotherapeutische Behandlung bewirken kann, ist, dass das zwanghafte Denken an das Essen wegfällt und die Betroffenen nicht mehr von der Sucht kontrolliert werden. Der Zwang, zu hungern, alles in sich hineinzustopfen oder zu erbrechen, kann durch eine erfolgreiche Therapie verschwinden.
Schemm: Ein ungesundes Essverhalten hat oftmals mit Kontrolle zu tun. Einer Patientin, die von ihren Eltern rund um die Uhr kontrolliert wurde, fiel es schwer, sich in der Therapie erstmals zu öffnen und über ihre Probleme zu sprechen.
Welche Freunde sie hat, welche Jobwahl sie trifft – alles wurde bestimmt. Sie hat sich dagegen gewehrt, zu essen, irgendwann ist sie in eine Anorexie hineingeschlittert. Ihre Eltern haben alles kontrolliert, bis die junge Frau eines Tages begonnen hat, die Kontrolle über ihren Körper selbst in die Hand zu nehmen. Die Essstörung ist immer als ein Lösungsversuch zu sehen und als ein Hilfeschrei im Sinne des Wunsches nach Akzeptanz, Verständnis, Geborgenheit und Liebe.
Schemm: Weil die Reaktionen von den Mitmenschen oft falsch sind. Einem essgestörten Menschen zu sagen: „Iss halt ein bisserl mehr!“, schlägt vollkommen in die falsche Kerbe. Dass Essstörungen wirkliche Krankheiten sind, hat sich noch nicht bis zu allen durchgesprochen. Da braucht es immer noch Aufklärung.
Schemm: Eine Essstörung kann viele Ursachen haben. Es gibt aber tatsächlich so etwas wie eine familiäre Belastung. Diese ist aber weniger genetischer Natur als ein angelerntes Verhalten. Man lernt zu Hause, wie man mit Problemen umgeht, welche Ansprüche man an seine Ernährung, aber auch an sich selbst hat. Wir haben eine magersüchtige Patientin, deren Mutter stets mit Übergewicht gekämpft und immer nur Light-Produkte eingekauft hat. Der Bruder der Patientin ist stark übergewichtig. Die ganze Familie hat Essstörungen, weil es in dem Haushalt nie einen normalen Umgang mit Lebensmitteln gegeben hat.
Schemm: Das Problem ist eher die dauernde Verfügbarkeit von Lebensmitteln. Alle paar Meter kommt man an einer Bäckerei oder einem Fastfood-Laden vorbei. Essen ist nicht etwas, auf das man sich freuen kann. Wir sind oft allein und essen, weil uns fad ist. Das Familienritual des Essens fehlt aufgrund der straffen Zeitstruktur. Weil es immer und überall was zu kaufen gibt, fehlt uns zudem das richtige Maß.
Schemm: Bei jungen Frauen hat das mit der Ernährung oft eine Gruppendynamik. Schulfreundinnen schicken mit ihren Smartphones Esspläne hin und her, oft gibt es ein richtiges Wetthungern. So entsteht ein irrsinniger Gruppendruck, dem sich Mädchen nicht leicht entziehen können. Burschen erkranken hingegen eher allein. Bei ihnen geht es in den Sportbereich hinein, wie dies zum Beispiel bei Sportanorexie zu beobachten ist.
Schemm: Kaputte Zähne, ausfallende Haare oder schlechte Nägel sind häufige Begleiterscheinungen von Essstörungen. Viele können sich auch kaum konzentrieren und schlafen schlecht. Auch Osteoporose – es kann hier aufgrund schwerer Mangelerscheinungen zu dauerhaften Schädigungen der Knochen kommen – tritt bei schweren Erkrankungen auf. Das geht bis zum Wirbelzerfall. Diese Krankheit kann man stoppen, aber nicht heilen. Wir hatten eine junge, magersüchtige Patientin, die sich allein vom langsamen Spazierengehen Frakturen am Bein geholt hat – so schwer war die Osteoporose durch die Essstörung.
Schemm: Wir werden rund um die Uhr mit den Bildern von unglaublich schönen und schlanken Menschen bombardiert. Die Medien präsentieren uns unwirkliche Körper als Sexsymbole. Da gibt es Models, die ein Baby bekommen und wenige Woche nach der Geburt mit einem flachen Bauch auf dem Laufsteg stehen. Viktoria Beckham wird mit Size Zero – einer unnatürlichen Kindergröße – als sexy inszeniert. Tag für Tag sehen wir, was angeblich schön und normal sein soll. Das prägt uns. Je weniger Rückhalt und Selbstbewusstsein man hat, desto mehr Macht hat diese Message.
Schemm: Wir haben schon Models hier gehabt, die sich Fett absaugen haben lassen. Obwohl sie stark untergewichtig und bereits bei uns in Therapie waren, hat sie ein Chirurg operiert. Das ist unverantwortlich, wir können das nicht unterstützen. Es war ja nichts da zum Fettabsaugen. Wir hatten auch eine Binge-Eating-Patientin hier, deren Ziel es war, ein Magenband zu bekommen, um keine Nahrung mehr aufnehmen zu können und so ganz dünn zu werden. Auch das zeigen uns die Medien: Schönheit ist käuflich, jeder Makel ist für Geld korrigierbar.